In Herrlingen, seit 1976 Teilort der Gemeinde Blaustein, lebten und wirkten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Persönlichkeiten, an deren Lebensgeschichten sich tiefgreifende Einschnitte deutscher Geschichte darstellen lassen.
Claire Weimersheimer (1883-1963) gründete 1912 in Herrlingen ein Kinderheim für verhaltensgestörte und schwer erziehbare Jugendliche. Zwischen acht und 30 Kinder aus dem gesamten Reichsgebiet, wurden von ihr dort nach reformpädagogischen Grundsätzen erzogen. Ihre erzieherischen Erfolge konnten sich sehen lassen. Als Jüdin drohte ihr nach 1933 die Verfolgung, weshalb sie mit ihrer Familie 1936 nach Palästina auswanderte. Dort engagierte sie sich für Flüchtlingskinder aus Deutschland. Frau Weimersheimer, die jüngere Schwester von Anna Essinger (siehe unten), war als Ideengeberin auch maßgeblich an der Gründung des Landschulheims beteiligt.
Gertrud Kantorowicz (1876-1945) war eine deutsche Schriftstellerin und Kunsthistorikerin. Mit dem bekannten Philosophen und Soziologen Georg Simmel hatte sie eine Tochter. Im Jahr 1921 kaufte sie jenes Haus an der heutigen Erwin-Rommel-Steige, das von Mitte der zwanziger bis Anfang der vierziger Jahre für jeweils kurze Zeitabschnitte auch von Anna Essinger, Hugo Rosenthal, Erwin Rommel und dem Jüdischen Altersheim (siehe unten) genutzt wurde. Nach dem Abitur ihrer Tochter im Jahr 1926 verließ sie Herrlingen wieder, das ihr trotz der kurzen Verweildauer eine Heimat geworden war. Beim Versuch älteren Frauen bei der Flucht in die Schweiz zu helfen, wurde sie 1942 von der Gestapo verhaftet und wochenlang in Berlin verhört. Man inhaftierte sie im KZ Theresienstadt, wo sie sich um Todkranke und Sterbende kümmerte. Wenige Tage nachdem die SS auf der Flucht vor der Roten Armee das Lager verlassen hatte, starb Gertrud Kantorowicz dort an Entkräftung.
Anna Essinger (1879-1960) hatte von 1913 bis 1917 in den USA ein Germanistikstudium absolviert und wurde 1919 von der „American Society of Friends“ nach Süddeutschland geschickt, um hungernden Kindern über die unmittelbare Nachkriegszeit hinwegzuhelfen. In Herrlingen gründete sie 1926 das erste, nach reformpädagogischen Gesichtspunkten erziehende Landschulheim Württembergs. Dort konnten anfangs 18 Kinder eine umfassende Schulausbildung genießen. Anna Essingers Landschulheim war eine konfessionsübergreifende Bildungsstätte für Kinder aus dem gesamten Reichsgebiet. Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, löste Anna Essinger ihr Herrlinger Heim auf und emigrierte nach England. In einer als Ausflug getarnten Aktion verließ sie in den Sommerferien Deutschland mit 65 Schülerinnen und Schülern, sowie mit sechs Lehrkräften. In Buncecourt, nahe Canterbury, gründete sie die „New-Herrlingen-School“ und betrieb diese bis 1948. Große Verdienste erwarb sich Frau Essinger auch durch Maßnahmen, die während des Zweiten Weltkriegs zur Rettung tausender jüdischer Kinder aus Deutschland führten. Anna Essinger starb in England und ist dort begraben.
Käthe Hamburg (1893 – 1951) gründete 1921 in Oberwiehl im Schwarzwald ein kleines Kinderheim für mittellose Kinder. Sie studierte Mathematik und Philosophie und wirkte als Lehrerin nach reformpädagogischen Grundsätzen. Im Jahr 1927 übersiedelte sie mit sechs Kindern nach Herrlingen und betrieb dort bis 1939 das sogenannte „Waldheim“ an der Karolinensteige. Im Landschulheim von Anna Essinger (siehe oben) unterrichtete sie bis 1933 Mathematik, um ihren Pflegekindern dort einen kostenfreien Schulbesuch zu ermöglichen. Als die Schule von Hugo Rosenthal (siehe unten) weitergeführt wurde, brachte Käthe Hamburg den Schülerinnen und Schülern auch dort mathematische Kenntnisse bei. Da Rosenthal die Schule 1939 geschlossen hatte, zog die Jüdin Käthe Hamburg nach England, wo sie wiederum in Anna Essingers New-Herrlingen-School unterrichtete. Ab 1942 war sie in leitender Funktion in einem Flüchtlingsheim in Manchester tätig.
Hugo Rosenthal (1887-1980) übernahm nach Anna Essingers Weggang deren Schulgebäude und betrieb von 1933 bis 1939 ein Jüdisches Landschulheim. Rosenthal legte nicht nur auf die klassischen Schulfächer wert. Er war bekennender Zionist und wollte seine Schülerinnen und Schüler auf eine eventuelle Ausreise nach Palästina vorbereiten. So sollten sie handwerkliche, hauswirtschaftliche und gärtnerische Fähigkeiten erwerben. Im Schuljahr 1936/37 besuchten 150 Schülerinnen und Schüler seine Schule. Rosenthal ahnte, dass das Leben für jüdische Menschen in Deutschland immer gefährlicher wurde, weshalb er seine Schule im März 1939 auflöste und nach Abwicklung aller Verwaltungsarbeiten, das Land im August in Richtung Palästina verließ.
Wir stellen Ihnen einen Link auf die Internetseite der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem (Israel) zur Verfügung. Sie finden hier zahlreiche Aufnahmen aus dem Leben im jüdischen Landschulheim aus den Archiven von Yad Vashem.
In Haifa angekommen, nahm er den Namen Josef Jaschuvi (der Heimkehrer) an. Ab Sommer 1940 leitete er dort ein sozialpädagogisches Heim, das er nach reformpädagogischen Grundsätzen führen wollte. Kernstück seiner Konzeption war die Gruppenerziehung.
Das Jüdische Altersheim (1939-1942) wurde in den ehemaligen Räumlichkeiten des Jüdischen Landschulheims von Hugo Rosenthal (vorher Anna Essinger, siehe dort) eingerichtet. Es sollte zurückgebliebene alte Menschen aufnehmen, deren Angehörige aus Deutschland ausgewandert waren. Den Antrag dazu stellte der Israelitische Oberrat Anfang 1939 bei der Gestapo-Leitstelle in Stuttgart. Kurz nach der Genehmigung bezogen im Juli 1939 die ersten Bewohnerinnen und Bewohner ihre neue Bleibe.
Im Reichsgebiet wurden zahlreiche Jüdische Altersheime eingerichtet. Man begriff sie als Sammellager, die einen möglichst unauffälligen Abtransport in die Konzentrationslager gewährleisten sollten. Von Ende 1941 bis Anfang 1942 gingen die ersten Transporte nach Riga und Izbica ab. Die vollständige Auflösung der Einrichtung, in der 115 Bewohnerinnen und Bewohner sowie 37 Angestellte lebten, erfolgte im Sommer 1942. Die alten Menschen wurden zunächst in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Von Herbst 1942 an begannen von dort aus die Todestransporte in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz.
Erwin Rommel (1891-1944) übersiedelte mit seiner Frau und seinem Sohn im Oktober 1943 von Wiener-Neustadt nach Herrlingen. Vermutlich wollte er seine Familie vor der heranrückenden Sowjetarmee in Sicherheit bringen. Er selbst war die meiste Zeit an den verschiedenen Frontabschnitten im Einsatz. Erst nach seiner schweren Verwundung an der Westfront in Frankreich im Sommer 1944 war er längere Zeit in seinem Herrlinger Haus anwesend. Dort wurde er am 14. Oktober 1944 von zwei aus Berlin angereisten Generälen aufgesucht und zum Suizid gezwungen. Die letzten Einzelheiten liegen im Dunkeln. Die Trauerfeier im Ulmer Rathaus sollte den Mythos Rommel bis zum letzten Augenblick aufrechterhalten. Erwin Rommels Asche ist auf dem Herrlinger Friedhof beigesetzt.
Die sogenannte Gruppe 47 ,bestehend aus etwa zwanzig Schriftstellerinnen und Schriftstellern, traf sich vom 7. bis 9. November 1947 im Haus „Waldfrieden“an der Karolinensteige in Herrlingen. Die Gruppe fand erstmals am Bannwaldsee bei Füssen zusammen, um nach der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten grundsätzliche Gedanken über die Zukunft der am Boden liegenden Nation anzustellen. In Herrlingen fand das zweite Treffen statt. Hauptinitiator der Gruppe, die weder Satzung noch Vorstand hatte, war Hans Werner Richter. Jeder Teilnehmer wurde aufgefordert, bisher unveröffentlichte Werke mitzubringen und daraus vorzulesen. Kritisches Augenmerk legte die Gruppe auf die verwendete Sprache, denn die zurückliegenden Willkürjahre hatten zum Teil deutliche Spuren im sprachlichen Ausdruck hinterlassen. Aus den Teilnehmern der zunächst halbjährlichen, dann jährlich folgenden Treffen – wobei die Tagungsorte wechselten – erwuchs die erste Garde der deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit.
Weiterführende Literatur:
-Dietrich Winter, Begegnungen mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten, 2. Auflage, Ulm 2011 (ISBN 978-3-86281-016-1)
-Ulrich Seemüller, Das jüdische Altersheim Herrlingen und die Schicksale seiner Bewohner, 2. Auflage, Ulm 2009 (ISBN 978-3-88294-403-7)
-Sara Giebeler, Axel Holtz, Peter Wilhelm A. Schmidt, Susanne Trachsler-Lehmann, Profile jüdischer Pädagoginnen und Pädagogen, Ulm 2000 (ISBN 3-932577-23-X)
Weitere Informationen erhalten Sie beim Verein Haus unterm Regenbogen e.V. aus Herrlingen, der unter anderem die jüdische Geschichte von Herrlingen aufarbeitet.